Der Reiseradio-Check ist weniger für Kunstexperten, denn dafür habe ich bei den vielen Diskussionen rund um die documenta14 viel zu wenig Ahnung. Es geht vielmehr um die Stimmung in der Stadt, die sich – subjektiv – zum ersten Mal so richtig entfaltet. Ich schreibe das als Mensch, der inzwischen seit 13 Jahren in der Stadt lebt, die Ausstellungen 2012 und 2007 mitbekommen hat. In diesem Jahr stellte sich zum ersten Mal das Gefühl ein, dass der ewig beschworene Geist der 100 Tage zur documenta14 tatsächlich Einzug gehalten hat. Das wiederum ist ganz wichtig für alle neugierigen Besucher, die einen Kassel-Citytrip mit dem großen Ruf der documenta verbinden möchten, ohne ein komplettes Wochenende in Museen oder Galerien zu verbringen. documenta14 schnuppern ist also angesagt. Das geht ganz prima ohne Eintrittspreise, wenn man damit leben kann, aktuelle und ältere öffentliche Kunstwerke anzusehen und die Stadt zu inhalieren. Es geht in diesem Jahr deshalb ganz besonders gut, da man sich angestrengt hat, Leben in den Innenstadtbereich zu bekommen: Erfolgreich übrigens.
Das Zentrum des Geschehens
Es findet sich rund um den Friedrichsplatz mit dem Museum Fridericianum. Dieses ist für Fremde nicht ganz einfach zu eruieren, denn der Name über dem Eingang wurde zum Kunstobjekt. Jetzt steht da: „BEINGSAFEISSCARY“ – Mal ganz frei übersetzt: Sicherheit macht Angst. Das trifft die Themen des Documenta-Jahrs 2017. Nie stand ein Thema so präsent im Vordergrund: Die Sicherheit, die Angst macht, wenn Andere aus der Unsicherheit zu uns kommen, um unsere Sicherheit zu teilen. Die Angst vermischt sich mit der Sicherheit, aber wird deshalb unsere Sicherheit weniger? Fragen, die überall durch die ausgestellte Kunst Bezüge herstellen. Eine Frage, die sich auf dem unmittelbar benachbarten Zwehrenturm und seinen Rauchzeichen auch stellt: „Schöpfung ist Existenz. Zu bestehen ist zu sichern. Sicherheit bedeutet Zukunft und Vergangenheit.“ Das wird als Botschaft mehrmals täglich vom Turm in die Luft geblasen. Daniel Knorrs Rauchzeichen, die zu Beginn der documenta14 mehr als einmal die Telefone der örtlichen Feuerwehr zu Klingeln brachten. Angst vor Verlust der Sicherheit? Unsere Literatur, die auf der einen Seite kulturelle Sicherheit impliziert und die in Plastik verpackt zum Parthenon-Tempel wird, wenn man alle Literatur sammelt, die mit Verboten unserer Kultur belegt wurde. Literatur als Mahnmal in klassischer Gestalt präsentiert die argentinische Künstlerin Marta Minujin. „Parthenon of Books“ steht unübersehbar auf dem Friedrichsplatz, ist immer noch nicht komplett gefüllt, aber wächst von Tag zu Tag.
Bi aller symbolischen Angst, die dort transportiert wird, entsteht durch den griechischen Tempel und damit zum Bezug zur „Partnerdocumenta14“ in Athen ein kulinarisches Bild. Kunst kann, bei aller Abgedrehtheit auch schön sein. Das transportiert sich ebenfalls, wenn man aktuell auf dem Friedrichsplatz unterwegs ist. Und genau Dies stellt sich dank der flächendeckenden Entspannungsangebote durch Gastronomie im Freien, durch Open-Air-Musik und durch laue Sommerabende ebenfalls ein. Internationales Publikum versammelt sich. Man hört allenthalben internationale Töne, die Kommunikationssprache ist Englisch. Und so genießt das Publikum, Wein, Bier, Kaffee, genauso wie Flammkuchen oder Eiscreme. Aus dem klassischen Liegestuhl geht der Blick in den Abend, aufs beleuchtete Parthenon, aber auch auf ein Werk von Thomas Schütte, das seit der documenta9 auf den klassischen Säulen des nicht mehr existierenden „Roten Palais“ steht. „Die Fremden“ die schon seit 1992 dort stehen passen nahtlos in die Botschaft von heute und sind dementsprechend mit der Plakatbotschaft versehen, die uns seit mehr als einem Jahr so vertraut erscheint: „Wir Alle sind das Volk“. War diese Skulpturensammlung vor 25 Jahren sehr theoretisch angelegt, so stellt sich das Heute spätestens dann ein, wenn man den Weg zum benachbarten Königsplatz macht und dort den Obelisken des nigerianischen Künstlers Olu Oguibe wahrnimmt. Deutsch, Englisch Türkisch und in arabischen Schriftzeichen, steht dort eine christliche Botschaft aus dem Matthäus-Evangelium: „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt.“ – Das Heute stellt sich zwangsläufig ein, wenn man das passende, aus dem Leben gegriffene, Fotomotiv einfangen kann.
Wenn man dann auf dem Weg dorthin, Straßenmusik aus den USA, Deutschland und der Türkei gehört hat, gesehen hat, wie deutsche Obdachlose die Gitarre zücken und mittun, der könnte das Gefühl bekommen, das einem vom Portal des Fridericianums entgegen prangt: „Beeing Safe is Scary“. Die Kontraste der Kunst landen in der Realität einer vergleichsweise sehr friedlichen Provinzstadt in der Mitte unseres Landes. Und die anwesenden internationalen Menschen kommen offensichtlich gut miteinander aus, nehmen ein Getränk oder rauchen an einer Shisha. Die Wärme eines Sommerabends tut Allen gut, auch der documenta-Kunst.
Die Verbindungen am Rande
Da ist die vorhandene und historische Kultur eines Welterbes der Brüder Grimm. Ihre Wohnung und damit die „Torwache“ der ehemaligen Stadtbefestigung wurde verhüllt von Ibrahim Mahama, einem Künstler aus Ghana. Verhüllt mit Jutesäcken, die zum Transport von Kaffee, Reis, Bohnen benutzt wurden. Er sagt, darin spiegele sich der Welthandel und die Geschichte des Kapitalismus. Einige hundert Meter weiter findet sich die Grimmwelt, das Museum, das den Sprachwissenschaftler und Märchensammlern gewidmet ist. Archtitektonisch sehr spannend kann man den Grimms aufs Dach steigen und schaut von dort in die Karlsaue mit weiteren Kunstwerken. Selbst an dieser etwas weiter vom Geschehen entfernten stelle hat man es in diesem Jahr geschafft am Steilhang des Weinbergs noch eine Open-Air-Gastronomie einzurichten. Entspannen mit Blick ins Grüne, um dann im Landschaftsgarten der Karlsaue weitere öffentliche Kunst entdecken zu können. Dort warten neben der Kunst- und Musikhochschule eine Soundinstallation des Amerikaners Benjamin Patterson angelehnt an Aristophanes‘ „Die Frösche“. Unter einem guten Dutzend Laubhaufen quakt es. Zu hören sind echte Frösche und ein Chor aus FroschimitatorInnen. Nicht denkwürdig aber witzig, die Installation genauso wie ihr Titel: „When Elephants Fight, It Is the Frogs That Suffer“ – Wer von dort in Richtung der wunderschönen Orangerie läuft findet gut versteckt noch die architektonischen Phantasien des südamerikanischen Künstlerkollektivs „Ciudad Abierto“ (offene Stadt). Deren ballähnliches Kunstwerk, das als Performance auf den Auewiesen benutzt wurde, hat leider das Zeitliche gesegnet. Zu sehen ist es aber noch. – Es folgt dann ein Werk, das wohl bei Vielen eher Ratlosigkeit hinterlässt. „Trassen“ von Olaf Holzapfel spielt mit Zwei- und Dreidimensionalität und hat noch zwei weitere Teile im Schlepptau, die an anderer Stelle zu sehen sind. Die „Angst vor durchlassenden Grenzen in Europa und der Welt“ erinnert die meisten Besucher an eine rohe Fachwerkinstallation. Kinder indes finden das Teil prima: Zum Klettern!
Unmittelbar vor der Orangerie findet man dann noch die Blutmühle. „Mill of Blood“, vom Mexikaner Antonio Vega Macotela, ist der Nachbau einer „Blutmühle“ mit der bolivianische Arbeiter die Silberverarbeitung für Münzen vorbereiten mussten. Sie arbeitet im Handbetrieb und soll eine Anklage sklavenhafter Arbeitsbedingungen sein. Trotz der Gewissensbelastung wird man danach Lust verspüren, auf der Terrasse der Orangerie einen Kaffee oder Cocktail zu trinken und in die Sonne zu schauen. Auf dem Rückweg zum Friedrichsplatz lässt sich eventuell noch ein Documenta-Eis erwerben. Auch die heimischen Gelatiere steuern ihre ganz eigene Kreation zu. Es ist aus Eiscreme mit echter Vanille mit eingeschlagenem Erdbeersirup. Sehr schmackhaft und mit 1 Euro 20, im Vergleich zu den meisten Großstädte, noch sehr erschwinglich. Am Ende der Treppe findet man schließlich gegenüber der Documenta-Halle noch das Werk des kurdisch-irakischen Künstler Hiwa K. 20 Röhren aus Ton hat er aufgestapelt und gemeinsam mit Studenten der Kunsthochschule als Miniwohnungen eingerichtet. Das Leben in Extremsituationen ist das Thema. So entstanden Mini-Lebensräume mit Bad, Bett und Kneipe. Als Aktion haben zu Beginn die Studenten darin auch eine Woche lang „gewohnt“. Auch das ist als Kunst eindrücklich und wie mir eine Besucherin sagte, verständlich. Da ist man nun zurück, hat beileibe noch nicht Alles gesehen oder gehört und trotzdem mindestens einen halben Tag mit Kunst verbracht. Der derzeit sehr einladende Friedrichplatz bietet jetzt Erfrischung und Entspannung und die Möglichkeit noch einmal über das zu sinnieren, was die documenta14 einem denn bieten kann. Jede Menge Anregung ganz sicher, jede Menge Entspannung zwischendurch ebenfalls. Und Morgen, mag man sich denken oder nicht, folgt dann der Teil der Kunst, für den man bezahlen muss.
Schlafen?
Während der 100 Tage sind die Hotels meist gut gebucht und teurer als gewöhnlich, leider aber nachvollziehbar. Hier sind fünf Tipps zur Nächtigung.
- Genius Hotel & Hostel, Ludwig Ehrhard Strasse 14 (**) ab 35 Euro im Hostel-Schlafsaal
- Stadthotel (CVJM), (im Zentrum, direkt an der Treppenstraße) (***) ab 63 Euro (DZ)
- PreMotel am Park, Raiffeisenstrasse 2-8, (***), guter Standard, recht neu, ab 65 Euro (DZ)
- MountainPark Hotel, Im Druseltal 93 (****) ab 95 Euro (DZ) – Achtung etwas außerhalb, dafür sehr ruhig.
- Kurparkhotel Bad Wilhelmshöhe, Wilhelmhöher Allee 336 (****) – Ein Klassiker mit hohem Standard, ab 150 Euro (DZ)
Was essen?
- Bistro/Bar: „Bolero“, Schöne Aussicht 1a, Innenstadt, (Americanstyle Cuisine) www.bolerobar.de
- Italienisch: „Il Teatro“, Oberste Gasse 2, Innenstadt (sehr gute Küche, entspannte Atmosphäre, reservieren!) www.ilteatro-kassel.de
- Griechisch: „Daphne“, Wilhelmshöher Allee 105, www.daphne-kassel.com
- Griechisch: „Mythos“, Wolfhager Straße 380, www.mythos-kassel.de
- Schweizer Küche: „Matterhorn-Stübli“, Wilhelmshöher Allee 326, www.matterhornstuebli.de
- Regionale & internationale Küche: „Denkmahl“, Friedrich-Ebert-Strasse 98, www.denkmahl.com
- Neue Deutsche Küche: „Voit“, Friedrich-Ebert-Strasse 86, (für gehobene Ansprüche) www.voit-restaurant.de
- Vegetarisch-Vegan-Indisch: „Trimurti“ – Wilhelmshöher Allee 61, (unkonventionell, einfach, schmackhaft, günstig) www.trimurti-restaurant.de
Noch mehr entdecken?
Dann vielleicht erst lesen und anschließend weiter planen. Hier ist ein Buchtipp in eigener Sache:
Rüdiger Edelmann: „Märchenhaftes Kassel & Nordhessen – Herkules, Dornröschen und die sieben Zwerge“, Gmeiner-Verlag, Messkirch, € 14,99
…und jetzt viel Spaß und Anregung bei der documenta14 oder irgendwann in Kassel und Nordhessen.
Information: documenta14 kassel-tourismus
Be the first to comment